zurück

Der Nockenantrieb in den papiermechanischen Exklusivmodellen Keith Newsteads

Vortrag auf dem 14. Internationalen Karton-Modellbau-Treffen
am 28.04.2002 in Bremerhaven


                          Seit 1989  lädt  das Deutsche Schifffahrtsmuseum in Bremerhaven zu einem jährlichen Karton-Modellbau-Treffen ein, zu dem Teilnehmer aus dem In- und Ausland anreisen. An einem Wochenende können sich die Freunde des Kartonmodellbaus untereinander austauschen, interessante Vorträge halten und hören und ihre fertigen Modelle präsentieren. Peter J. Visser aus Holland hat Bildberichte über die drei letzten Treffen zusammengestellt (dort bitte "Pictures: Fairs and exhibitions" anklicken). Das Thema meines Vortrags lautete "Der Nockenantrieb in den papiermechanischen Exclusivmodellen Keith Newsteads", das Manuskript und die gezeigten Overhead-Folien sind unten abgedruckt.


           1. Überblick

Im letzten Jahr habe ich u.a. zwei pneumatische Papiermodelle des englischen Automatenbauers Paul Spooner vorgeführt, die Hochzeitstorte und den Gedankenautomaten. Heute möchte ich vier papiermechanische Modelle eines anderen englischen Künstlers vorstellen, sein Name ist Keith Newstead. Es sind die Modelle: Tower Bridge, Bildhauer, Tippoo's Tiger und Waage der Gerechtigkeit.

Newstead ist 1956 geboren, hat Kunst und Technologie studiert und 10 Jahre lang sein Geld als Motorradkurier in London verdient. Durch einen Fernsehfilm wurde er inspiriert, mechanische Skulpturen oder - wie es in England heißt: "automata" - zu bauen, manche sind aus Metall, sehr viele aus Karton.

Newstead hat viele seiner mechanischen Papiermodelle exklusiv für Touristenattraktionen in London entwickelt. Die Bausätze sind auf kräftigem Karton gedruckt, zum Teil gestanzt und in sehr aufwendig gestalteten Kartonumschlägen verpackt.

Der Arcturus-Verlag, der viele von Newsteads Bausätzen vertreibt, schreibt über ihn: "Keith Newstead is the UK´s leading automata artist", etwa: "Keith Newstead ist der führende Künstler für mechanische Figuren im Vereinigten Königreich."

Die vier Modelle, die ich heute mitgebracht habe, werden alle durch Nocken angetrieben, die auf der Antriebswelle befestigt sind. Daher das Thema meines Vortrags: "Der Nockentrieb in den papiermechanischen Exklusivmodellen Keith Newsteads."



            2. Nockenantrieb

Exzenterscheibe

Eine Nocke ist im Grunde eine asymmetrische Verdickung einer Kurbelwelle. Die einfachste Form einer Nocke ist eine Scheibe, deren Welle nicht im Zentrum angebracht ist, sondern versetzt oder "exzentrisch." Die Exzenterscheibe erhält so zwei Radien, einen großen Radius und einen kleinen. Wird die Welle gedreht, dann eiert die Scheibe gewissermaßen, mal ist der kleine Radius oben, mal der große. Die Differenz beider Radien nennt man Hub.

Bringt man nun oberhalb der Exzenterscheibe eine bewegliche Stange an, einen Stößel, so folgt er der Radienveränderung und hebt und
senkt sich gleichmäßig während einer Kurbeldrehung. Das Ausmaß der Bewegung des Stößels entspricht dem Hub. Wichtig ist eine gute
Führung, damit der Stößel nicht verkantet. Durch einen Nocken in Verbindung mit einem Stößel kann somit eine Drehbewegung in eine
lineare Auf- und Abbewegung umgeformt werden.

Durch unterschiedliche Nockenformen können unterschiedliche Rhythmen bei der Auf- und Abbewegung des Stößels erzeugt werden. Man kann sagen, dass in der Umrisslinie des Nocken ein Bewegungsprogramm gespeichert ist. Hierzu zwei Beispiele.
             


 

     

Eiförmiger Nocken

Während bei der Exzenterscheibe Hebung und Senkung gleichmäßig erfolgen, hat der eiförmige Nocken einen völlig anderen Rhythmus. Die Hebung erfolgt schnell, die Senkung ebenfalls, dann tritt eine Pause ein, da sich der Radius bei 50% der Umdrehung nicht ändert.


Schneckennocken

Durch einen Schneckennocken wird der Stößel langsam auf den
höchsten Radius angehoben, um dann schlagartig auf den
kleinsten Radius herunter zu fallen.








Nocken und Hebel

Kombiniert man einen Nocken mit einem Hebel, so kann man die Drehbewegung der Kurbel umwandeln in eine Schwingbewegung des Hebels. Die Form der Kurvenscheibe wird durch einen Taster abgetastet, der am Hebel befestigt ist.


Je weiter nun der Hebel über den Nocken hinausragt, desto größer wird die Schwingbewegung, die das Ende des Hebels ausführt. Newstead verwendet häufig eine Kombination aus Nocken, Schwinghebel und Stößel. Die Zwischenschaltung des Hebels erlaubt es ihm, den Hub des Stößels gegenüber dem Hub des Nocken zu variieren. Außerdem kann er steile Nockenkurven verwenden, da der Taster eines Schwinghebels nicht so leicht klemmt wie ein Stößel.

Nun zu den einzelnen Modellen und ihren Mechanismen.



         3. Die Modelle

a. Die Tower Bridge

Das Modell "Tower Bridge" wurde für die Erlebnisshow "Tower Bridge Experience" angefertigt. Es erzählt ein tatsächliches Ereignis vom Dezember 1952. Damals übersah der Fahrer eines Doppeldeckerbusses der Linie 78 die rote Ampel, durchbrach die Absperrkette und raste auf die sich öffnende Brücke. Wunderbarerweise übersprang der Bus die Lücke und landete wohlbehalten auf der anderen Seite.

Es gibt in diesem Modell zwei Bewegungen, die sich öffnende Brücke und den fahrenden Bus. Die Brücke wird durch einen Nocken geöffnet, der einer abgeflachten Exzenterscheibe ähnelt. Der Bus ist an einem Halter festgeklebt, der auf die Kurbelwelle aufgeschoben ist und sich mit ihr im Kreise dreht.


b. Der Bildhauer

Das Modell "Der Bildhauer" wurde exklusiv für die Tate-Galerie entwickelt. Es erzählt eine Geschichte, die eine traumatische Situation für jeden bildenden Künstler darstellt. Der Bildhauer hat eine Frauenskulptur fast fertig und legt letzte Hand an die Gestaltung des Armes. Noch ein paar letzte Hammerschläge - und dann passiert das Malheur, der Arm der Statue bricht ab, der Gesichtsausdruck der Statue verwandelt sich in Schmerz und Entsetzen und der Bildhauer zieht verschreckt den Kopf ein.

Es sind vier Bewegungen in diesem Modell, das Schlagen des Hammers, das Abbrechen des Arms, der Gesichtsausdruck der Statue und das Zurückziehen des Kopfes des Bildhauers.

Der Arm des Bildhauers mit dem Hammer wird durch einen Nocken mit vier Erhebungen gesteuert, sie lassen den Hammer viermal zuschlagen. Während der Hälfte der Kurbeldrehung passiert nichts, der Hammer ist in Warteposition. Arm und Gesichtsausdruck der Statue werden durch einen Zackennocken gesteuert. Die meiste Zeit passiert nichts, der Radius bleibt gleich, das ist die Phase, in der der Bildhauer hämmert. Dann bricht schlagartig der Arm ab - der Taster fällt vom höchsten Punkt auf den tiefsten, dann steigt die Nockenkurve wieder rasch an, was eine Reparatur der Statue bewirkt, der Arm geht wieder nach oben.
Bei beiden Nocken verwendet Newstead eine Hebel-Stößel-Kombination und nutzt die längeren Lastarme zur Vergrößerung der Bewegung. Am Arm-Hebel befestigt er einen zweiten Stößel, der den Kopf des Bildhauers trägt.

   
      Wenn nun der Arm der Statue fällt, sackt zugleich der Kopf des Bildhauers nach unten. Da der dazugehörige Lastarm sehr viel kürzer ist als der Kraftarm, wird die Bewegung verkleinert, der Kopf sackt also nur ein kleines Stück nach unten.



           c. Tippoo´s Tiger

"Tippoo´s Tiger" ist ein Exklusivmodell für das Victoria und Albert Museum. Es schildert eine dramatische Situation: Ein Mann in englischer Uniform wird von einem Tiger angegriffen, und es sieht sehr schlecht für den Mann aus. Das historische Vorbild für dieses Modell ist eine Skulptur aus bemaltem Holz, die für Tipu Sultan, den Herrscher von Mysore in Südindien im 18. Jahrhundert angefertigt wurde. Die Skulptur enthält eine Spieluhr französischer Produktion, die das Brüllen des Tigers und das Stöhnen des Opfers simuliert. Musikautomaten waren damals in Europa sehr populär und wurden auch in Indien geschätzt. Die Skulptur hat einen politischen Hintergrund. Ende des 18. Jahrhunderts beherrschte die britische Ostindienkompanie große Teile Indiens als Privatbesitz und plünderte das Land weidlich aus.

Tipu Sultans Spieluhr

Newsteads Kartonmodell

        Tipu Sultan bewies militärisches Geschick und bekämpfte lange Zeit erfolgreich die Armeen der Ostindienkompanie und führte den Titel "Tiger von Mysore." So symbolisiert die Skulptur den Unabhängigkeitskampf gegen die Kolonialmacht. Der Tiger wird durch einen Nocken mit vier Erhebungen gesteuert, von denen eine etwas größer ist. Dadurch wird das Aufrichten des Tigers und ein vierfaches Zubeißen erreicht. Bei jedem Biss bewegt sich das Opfer, gesteuert werden rechter Arm und Hals plus Kopf. Die Bewegungen sind mit denen des Tigers koordiniert. Das Brüllen des Tigers wird durch eine Schnarre simuliert, die durch einen Nocken mit Zacken bewegt wird.



             d. Die Waage der Gerechtigkeit

Newsteads Modell "Waage der Gerechtigkeit" wurde für das Britische Museum entwickelt, das eine der größten Sammlungen ägyptischer Kunst besitzt. Darunter ist ein Papyrus, der eine Szene aus dem ägyptischen Totenbuch darstellt. Der altägyptischen Religion zufolge wird die Seele eines Verstorbenen - symbolisiert durch sein Herz - gegen die Feder der Wahrheit aufgewogen. Der Totengott Anubis übernimmt das Abwiegen. Ist die Seele leichter als die Feder, war der Verstorbene ein guter Mensch und erhält das ewige Leben. Ist das Herz aber schwerer als die Feder, dann schnappt das Monster Ammut zu, die "Große Fresserin", und frisst es auf. Das Monster ist ein Mischwesen aus verschiedenen Tieren wie Krokodil, Nilpferd und Hyäne. Dieser Papyrus ist die Vorlage für Newsteads Modell.

Totenbuch-Papyrus

Newsteads Kartonmodell

     

      Die Waage, der Verstorbene und das Monster werden durch Nocken gesteuert. Zunächst sieht die Sache sehr gut aus für den Verstorbenen. Sein Herz ist leichter, und er lacht froh. Dann ändert sich die Situation, die Waage senkt sich, das Monster schnappt zu und der Gesichtsausdruck wandelt sich zum Entsetzen. Die sich drehende Kurbel entscheidet das Schicksal des Verstorbenen - es liegt somit in unserer Hand.


zum Seitenanfang